Angst hier und dort oder: Nachdenken in einer geborgenen Sicherwelt

Flüchtlingslager Moria

„In der Welt habt ihr Angst; aber seit getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16,33)

Dieser Jesus-Spruch geistert mir seit Beginn der Corona-Zeiten immer wieder im Kopf herum. Aufgrund der Angst, die fast überall zu spüren ist.

Viele Menschen in Deutschland haben Angst vor Corona, vor Covid-19. Vor dem Verlust ihrer Gesundheit oder der ihrer Lieben, vor anderen Leuten, die sie anstecken könnten. Vor den wirtschaftlichen Folgen weiterer Einschränkungen, vor Existenzverlust, vor der Ungewissheit, vor dem Tod. Viele hoffen, dass dann, wenn sie ins Krankenhaus müssen, ein Bett und genug Medizin für sie da ist, und sie hoffen, dass die Corona-Krise bald überwunden ist.

Laut dem Jesus-Wort kann man in all dem getrost sein, denn nach dem Tod ist alles anders. Nur – die Menschen wollen ja genau das nicht, nämlich sterben. Sie haben Angst davor, und all die ergriffenen Schutzmaßnahmen dienen letztlich genau dem: Das große Sterben zu verhindern, das in Corona-Zeiten einem Kollaps der Gesundheitsversorgung unweigerlich folgen würde.

Irgendwie ist darum der Jesus-Spruch nicht mehr zeitgemäß. Denn zwar ist weiter Angst da, doch kann ihrer Ursache durch entsprechende Maßnahmen etwas Schützendes entgegengesetzt werden. So wird es möglicher, in der vorhandenen Welt weiter zu leben.

Mit dem Abhandenkommen seiner Zeitgemäßheit taucht für mich in dem Spruch jedoch eine Utopie auf, die durch Corona näher rückt. Nämlich, dass etwas, vor dem man Angst hat, überwunden wird – und man danach weiter in eben dieser Welt leben kann. Die Utopie wäre zuversichtliches Leben als Kontinuum in dieser Welt. Im Folgenden einige Gedanken zu dieser Utopie.

Corona ist etwas Mächtiges, vor dem man sich mit passenden Maßnahmen schützen kann, bevor es da ist, aber auch dann, wenn es da ist. In unserer gut sortierten, freiheitlichen Demokratie gibt es unglaublich viele Möglichkeiten des Schutzes.

Dabei stellt sich die Frage, ob man sich überhaupt in Angst davor schützen muss oder ob Zuversicht eventuell ein viel größerer Schutz ist. Ob ich also zum Beispiel mit gutem Mut darauf vertraue, gesund zu bleiben und darum die Welt und vor allem andere Menschen lächelnd über 1,5 m hinweg anstrahle – oder ob ich mit einem miesepetrigen, ängstlichen Gesicht herumlaufe und in jedem Gegenüber eine potenzielle Virenschleuder wähne.

Mir ist das Lächeln definitiv lieber, und ich bin heilfroh, dass ich das tun kann. Weil ich in diesem Land hier lebe, in dem ich vor allem möglichen geschützt bin/werde, sogar vor einem willkürlich wütenden Virus, und diesen Schutz selbst beliebig erweitern kann. Klar, wir haben alle keine Garantie, und die wirtschaftlichen Folgen sind ein gesellschaftliches Angstthema für sich. Doch wir können das: uns schützen. Nicht nur, damit wir das Virus nicht bekommen. Sondern damit wir überhaupt am Leben bleiben.

Die Wahrscheinlichkeit ist außerdem sehr hoch, dass wir auch dank der dem Menschen innewohnenden Resilienz, die sich nun bitte vollumfänglich in jedem und jeder entfalten möge, gestärkt aus diesen Zeiten hervorgehen werden. Zur Utopie gehört, dass „nach Corona“ viel mehr Menschen als bislang wissen, was Resilienz überhaupt ist und wie man sie selbst herstellen bzw. in sich reaktivieren kann – und dass die Menschen das dann auch beibehalten.

Ergo würde man formulieren können: In der Corona-Welt hattet ihr Angst, doch diese Welt ist nun überwunden, und ihr lebt immer noch. Also lebt bitte weiter resilient und mit dem Spaß und der Freude, für die ihr hier auf der Welt seid; hört endlich auf, einander das Leben schwer zu machen.

Klingt gut und machbar, der Zukunftsforscher Matthias Horx hat ähnliche Gedanken dargelegt. Auch wirtschaftliche Folgen hin oder her, mit gutem Mut ist vieles zu bewerkstelligen – zumindest hierzulande. Doch auf der Welt gibt es noch andere Länder, zum Beispiel Syrien.

Im Facebook-Feed eines in Deutschland lebenden Flüchtlings, mit dem ich auf FB verfreundet bin, sah ich das Foto seines Computerbildschirms. Dieser zeigte eine Landkarte mit dem Vermerk: Syrien, 1. Also: Ein gemeldeter Corona-Infizierter. Der FB-Freund hatte dazu auf Arabisch etwas geschrieben. Die automatische Übersetzung lautete: „Schlachte, das Land hat sich der Liste angeschlossen.“

Vor diesem Hintergrund der täglichen Angst der Menschen, die in totalitären Regimen leben, scheint mir die hiesige Angst vor Corona ein wenig trivial.

In Ländern, in denen Krieg und Potentaten samt ihrer Verbündeten wüten, können sich Menschen vor Folter, Not und Tod eigentlich nur durch Flucht schützen. Durch eine Flucht, auf der viele umkommen.

Gewollt sind diese Flüchtlinge nirgends. Angesichts der geschlossenen Grenzen erübrigt sich diesbezüglich gegenwärtig ja auch irgendwie jede Frage nach ihrer Aufnahme. Mit der Angst vor der Corona-Ansteckungsgefahr und dem Schließen der Grenzen hält man Flüchtlinge gleich mit fern.

Auch in Syrien wurden wegen Corona Schulen und Universitäten geschlossen, Kultur- und Sportveranstaltungen abgesagt. Die Parlamentswahl wurde verschoben. Der private und öffentliche Verkehr zwischen syrischen Städten soll ausgesetzt werden, Verbindungsstraßen zwischen den einzelnen Provinzen sollen nicht mehr befahren werden. Ist es nicht grotesk, Menschen vor dem Virus schützen zu wollen, aber nicht vor staatlicher Willkür?

Pressedienste titeln, das Virus kämpfe nun mit in Syrien. Fragt sich, auf wessen Seite. Man könnte entgegenhalten, das Virus habe keine Seite, es würde willkürlich alle treffen. Doch nein. Denn in Syrien gibt es Menschen, die sich vermutlich sehr gut schützen können. Und solche, die das nicht können. Schon gar nicht in einem überfüllten Flüchtlingslager außerhalb von Syrien. Außerdem ist während der Corona-Krise weiterhin Bürgerkrieg, und vermutlich auch danach.

Mit der utopischen Sicht auf das, was trotz all dem möglich wäre, hoffe ich darum, dass wir durch die Corona-Krise in unserer geborgenen Sicherwelt merken, wie sehr wir uns schützen können im Vergleich zu vielen anderen Menschen auf der Welt. Darüber hinaus hoffe ich, dass wir merken: Das In-die-Schranken-Weisen der Willkür eines Virus, um Menschenleben zu retten, ist eigentlich eine Metapher fürs dringend nötige weltweite In-die-Schranken-Weisen der Willkür totalitärer Systeme und der von ihnen profitierenden Unterstützer. Denn die Würde des Menschen ist unantastbar.

Ich bin getrost und zuversichtlich, dass dies nach der Corona-Krise mehr politischen Entscheidern klarer sein könnte als vorher. Für eine Welt, in der Menschen nach dieser Zwangsdistanz angstfrei enger zusammenrücken können. Damit auch die Menschen in unserer geborgenen Sicherwelt Platz finden, die sich und die ihren vor Unmenschlichkeit schützen wollen.

Nachtrag 1
Als ich diesen Artikel heute fertig hatte, ihn gekürzt und beschlossen hatte, ihn nicht zu veröffentlichen, fand ich den Artikel „Deutschland muss jetzt Flüchtlinge aufnehmen“ von Nathalie H. Rippich (23.3.2020, 18:14 Uhr) sowie die Nachricht, dass UN-Generalsekretär zu sofortigem Waffenstillstand weltweit aufgerufen hatte (23.3.2020, 17:27 Uhr). „Beendet die Seuche namens Krieg und bekämpft die Krankheit, die unsere Welt verwüstet“, sagte António Guterres in New York. Die Konfliktparteien sollten ihre Feinseligkeiten einstellen und ihr gegenseitiges Misstrauen überwinden.

Das wäre sehr schön, wenn sie das täten. Und ich bin gespannt, was in der Gesellschaft für Töne zu hören sein werden, wenn in wenigen Tagen oder Wochen Flüchtlinge aus Moria nach Deutschland kommen.

Nachtrag 2
In der Sicherwelt braucht ihr nicht so viel Angst zu haben, am besten gar keine. Lasst auch andere daran teilhaben. Überwindet gemeinsam euer Misstrauen und eure Feindseligkeiten. Schafft eine Sicherwelt für alle. Ihr habt es jeder für sich und gemeinsam in der Hand, dass dies möglich ist. Die Zeiten von Corona sind eine gute Gelegenheit dafür.