Aus der Bahn

Die Frau im Zug hatte keine Fahrkarte. Der Automat in Frankfurt hätte ihr kein Geld gegeben. Einen Ausweis hatte sie nicht. Nur die Karte einer Krankenversicherung. Das kostet 60 Euro, sagte die Kontrolleurin. Ja, sagte die Frau und holte einen verknitterten Bankauszug aus ihrem Geldbeutel. Es ist Geld auf dem Konto, sehen Sie mal, sagte sie zur Kontrolleurin und gab ihr den Auszug. Diese sah ihn an und nickte. Ich fahre in die andere Stadt, weil da mein Konto ist, sagte die Frau. Ich konnte immer in Frankfurt Geld abheben. Heute plötzlich funktionierte das nicht mehr. Hier ist meine Adresse. Sie zog noch ein Papier aus dem Portemonnaie.

Die Kontrolleurin verzog keine Miene, blieb höflich und bereitete ein Papier vor, mit dem die Frau das Geld überweisen sollte. Das Papier übergab sie der Frau, erklärte noch ein paar Formalitäten und ging dann.

Die Frau schaute aus dem Fenster. In Frankfurt am Bahnhof, sagte sie zu mir, muss man immer aufpassen, dass man nicht beklaut wird. Mir ist die Handtasche geklaut worden. ßSeither habe ich keinen Ausweis mehr. Ich weiß, ich brauche einen neuen. Aber ich brauche einen türkischen. Das kostet viel Geld. 400 oder 500 Euro. Man muss zum Konsulat fahren. Mehrfach. Auch das kostet.

Mein Freund ist vor vier Jahren gestorben. Einfach so, im Schlaf. Ich bin dann aus H. weggegangen. Bin nie wieder in die Wohnung zurückgekehrt. Da gab es dann eine Räumungsklage, alles wurde weggeworfen. Einfach so ist er gestorben. Das wünsche ich mir auch für mich, so einen Tod, sagte sie.

Meine Kinder habe ich damals zu meiner Mutter gegeben, erzählte sie weiter. Mein ältester Sohn ist 24. Der ist Fußballprofi. Fährt ein großes Auto. Mein Tochter ist 21. Sie hat Abitur gemacht. Was sie jetzt macht, weiß ich nicht. Mein jüngster Sohn ist 17. Er war auf der Realschule. Nein, ich will keinen Kontakt. Meine Kinder sollen nicht wissen, wie ich lebe.

Ich habe mit 17 geheiratet und mich nach ein paar Jahren von meinem Mann getrennt. Ich habe nichts gelernt. Ich würde gerne etwas arbeiten. Ich würde gerne auch einen Computerkurs machen. Ich glaube, bei der Volkshochschule gibt es so etwas.

Erst habe ich nach dem Tod meines Freundes uf der Straße gelebt. Dort musste ich mich entscheiden, ob ich anschaffen gehen oder dealen will. Ich habe mich fürs Dealen entschieden. Dann war ich 19 Monate im Knast.

Als ich wieder draußen war, habe ich einen Mann kennengelernt. Der ist 14 Jahre älter als ich. Er arbeitet schwarz. Er ist lieb. Er hat mich von der Straße geholt. Wir wohnen in einer Einzimmer-Wohnung.

Eigentlich hätte ich mir eine Fahrkarte kaufen können. Mein Freund hatte mir 40 Euro gegeben. Aber ich habe mir Stoff gekauft.

Als mein früherer Freund gestorben war, habe ich das Trinken angefangen. Können Sie sich das vorstellen? Ich habe drei Flaschen Vodka am Tag getrunken. Im Knast war ich clean. Null Drogen.

Ich spreche so gut Deutsch, weil ich mit einem Jahr nach Deutschland kam. Meine drei Geschwister wurden hier geboren. Denen geht es allen gut.

Ich hätte nie gedacht. dass es mir so gehen könnte. Vielleicht sollte ich mich mehr um mich kümmern. Kontakt mit meinen Kindern aufnehmen. Aber … vielleicht besser nicht.

Soweit zusammengefasst, was mir die Frau erzählte.

Was sie und ich dann noch besprachen, schreib ich hier nicht. Nur so viel: Sie überlegt, ob sie Kontakt zu ihren Kindern aufnimmt.

Das würde mich freuen. Doch ich werde es nicht erfahren. Wir kennen unsere Namen nicht. Geht sie den Weg, den sie mir beschrieben hat, den sie gehen will, würde ich sie vermutlich nicht wiedererkennen.

Wenn wir Wunder zulassen, werden Wunder geschehen. Der Satz hat ihr gefallen.


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