Brief Mariens

Braucht Ihr das wirklich noch immer:
Meinen Sohn am Kreuz hängen sehen,
dieses ganze Leiden sieben Wochen lang bedenken,
haarklein, bis in die tiefste Wunde hinein
immer wieder in die Seite bohren:
Ist er schon tot?

In meinen Ohren dröhnt seit zwei Jahrtausenden
das Hämmern, das Hineintreiben der Nägel
durch die kostenbaren Hände,
die Füße meines Sohnes hindurch,
der schrie und litt,
wie so viele vor ihm und so viele danach.

Nichts habt Ihr gelernt,
Ihr Mächtigen und Ohnmächtigen,
die Ihr noch immer die Welt mit Leid überzieht
und meint, dass das Gottes Wille sei.

So alt ist der Glaube,
dass die Götter, dass Gott,
dass eine übergeordnete Macht das Leid wolle,
so sehr sitzt menschengemachtes Leid in den Knochen,
dass sogar mein Sohn Gottes glaubte,
Gott wolle dies so.

Ihr glaubt das weiter.
Ihr leidet und lasst leiden,
so unerträglich ist das.
Wir Mütter sollen gebären mit Leid und Schmerz,
wahrlich, ich sage Euch:
Gebären ohne Angst gelingt ohne Schmerz.

Nichts habt Ihr gelernt,
Ihr Mächtigen und Ohnmächtigen,
die Ihr noch immer die Welt mit Leid überzieht
und Jammertäler schafft, bewohnt und besingt.

Ohne Schmerz entband ich meinen Sohn,
den ich nicht schützen konnte
vor der Gier der Mächtigen
und ihrem Neid auf das, was er konnte
und was sie nicht wollten:
Menschen in Unversehrtheit begleiten.

Voller Schmerz stellt Ihr mich Jahr um Jahr
unters Kreuz. Euren Schmerz soll ich tragen
wie mein Sohn Eure Sünden.
Mein Sohn starb, weil auf Erden Mächtige
das so wollten. Er erstand, weil Liebe mächtiger ist,
als von Menschenhand gemachter Tod.

Weint selbst Eure Tränen, ich habe genug
geweint um dieses Kind, das vor meinen
Augen zu Tode gefoltert wurde.
Mein Kind lebt, und so könnt auch Ihr leben.
Hört auf damit, das Leid zu verherrlichen
und zugleich zu behaupten, Ihr meintet es anders.

Nichts habt Ihr gelernt,
Ihr Mächtigen und Ohnmächtigen,
die Ihr noch immer die Welt mit Leid überzieht
und Kindern den Gekreuzigten mehr zeigt als den Lebendigen.

Stabat Mater? Die Mutter verlässt
die Ohnmacht unterm Kreuzesstamm.
Das Kreuz bedeutet Mensch und Leben,
ins Gegenteil verkehrt wurde diese Bedeutung
bei vollem Bewusstsein drehe ich sie wieder zurück,
und gehe, taw, hinauf nach Jerusalem.

Was Ihr ohne mich machen sollt?
Kommt mit mir, mein Sohn hängt nicht mehr
auf Golgatha, auch ist er nicht unerreichbar
im Himmel, denn der Himmel ist auf Erden,
genau über Euch beginnt er, Ihr seid in ihm
und er in Euch, ewiger Ostermorgen.

Alles könnt Ihr lernen,
Ihr Mächtigen und Ohnmächtigen,
von jedem Kind am Morgen seines Lebens:
Noch leuchtet darin der Frieden der Welt.

Du Mächtiger, Ohnmächtiger,
dereinst Kind gewesener,
hör auf, Deinen Schmerz auf andere zu legen,
bring ihn selbst in Frieden.

Ulrike Streck-Plath, 31. März 2021