Der greise Häuptling spürt die Zeit nahen. Er ordnet alles und nimmt Abschied. Dann geht er in die Weite, legt sich an einem lange vorher von ihm ausgewählten Ort auf die Erde und gibt seinen Geist ab.
Im Buch „Das Haus auf meinen Schultern“ von Dieter Forte findet sich eine ähnliche Beschreibung: Ein Vorfahre des Protagonisten lebt allein in seinem Haus. Er ist hochbetagt und legt sich in sein Bett. Da er weiß, dass sich bei Toten der Mund öffnet und er nicht möchte, dass die Menschen, die ihn finden werden, ihn so sehen müssen, legt er sich ein Taschentuch ums Kinn und knotet es auf dem Kopf zu. Dann faltet er seine Hände und stirbt nach drei Tagen. Seither wird in der Familie am Totenbett jedes Verstorbenen die Geschichte der Familie erzählt, von diesem Vorfahren an bis in die Gegenwart.
Die Tschuktschen sind ein Volk, das in Ostsibirien zu Hause ist. So kalt ist es dort, dass Erdbestattungen unmöglich waren. Die Tschuktschen hatten darum den Brauch, ihre Toten auf eine weit entfernte Anhöhe zu bringen. Dort wurden die Verstorbenen so, wie sie auf die Welt gekommen waren, also bar aller Kleidung, den Elementen überlassen.
Ist Sterben leicht oder schwer? Ich habe erfahren, dass der Moment des Sterbens leicht ist. Ein Hauch, und dann sind da Weite, Licht und Ewigkeit.
Der Weg dahin kann jedoch sehr schwer sein, und ich glaube, das liegt an den so unendlich vielen leidvollen Erlebnissen der kreatürlichen Welt, gestorben oder getötet zu werden. Dies beides war eigentlich nie vorgesehen.
Ein Mammut- und Steinzeitforscher kommt mir da in den Sinn. Wir haben ihn vor vielen Jahren am Chiemsee kennengelernt, wo er ein einzigartiges Museum hatte.
Dort zeigte der Forscher unter anderem das Bearbeiten von Stein, um Werkzeuge herzustellen. Mit einem frisch gefertigten, scharfkantigen Steinsplitter schnitzte er in Windeseile wie zufällig an einem Zweig herum, bis dieser eine lange Spitze hatte. Er nahm den entstandenen Holzstab in die eine Hand und piekste sich mit der Spitze in die Fläche der anderen Hand. „Aua!“, schrie er. „Ahhh“, sagte er dann erstaunt und sah uns mit weit aufgerissenen Augen an. Dann kniff er die Augen zusammen, fixierte uns gefährlich grinsend und fasste einen Erkenntnisprozess des Menschen in diesen Satz: „Was kann ich nun alles damit machen …“
Schlimme Erlebnisse, Gewalt und Krieg traumatisieren. Traumatisierung führt zu chemischen Prozessen im Körper, die das Verhalten von Menschen und damit den Verlauf ihres Lebens verändern und mitbestimmen. Die geänderten chemischen Zustände werden auch vererbt, wie man mittlerweile weiß.
Dazu kommt das, wovon bereits kleinste Kinder zum Beispiel in Märchen erfahren: fürchterlichste Vorgehensweisen, Menschen zu Tode zu bringen, als sei das eine unabwendbare Gegebenheit.
Dazu kommt außerdem all das, was wir Tag für Tag erleben oder in den Nachrichten hören und sehen. Gewalt, Krieg, große Not. Krankheit, quälende Zeiten, Verzweiflung.
Wie sollen Menschen da ihre Angst vor Sterben und Tod verlieren – und ihre Angst davor, jemanden zu verlieren?
Eine der zahlreichen Möglichkeiten, die sich Menschen gegen diese Ängste vor Sterben und Tod geschaffen haben, ist das Immerwiedergeborenwerden, bis man bestimmte „Lektionen“ gelernt hätte. Schrecklich, und einzig dafür geeignet, das Leid auf Erden für gegeben, gar: für normal zu halten und dabei mitmachen zu müssen, als Opfer oder Täter.
Eine andere Sichtweise ist, dass nach dem Tod nichts ist. Ende und aus, das war’s dann, darum könne man’s hier auf Erden zu Lebzeiten richtig krachen lassen.
Die christliche Sichtweise ist das Hineingehen in die Ewigkeit, aus der man gekommen ist – und die Wiederauferstehung, wie und wann die auch immer sein wird.
Viele Menschen haben jedoch weiter Angst vor Sterben und Tod und davor, jemanden an den Tod zu verlieren.
Diese Angst nun Dank vielversprechender Möglichkeiten fürs „Danach“ verlieren zu wollen oder zu sollen, ist jedoch sinnlos. Denn etwas zu verlieren bedeutet, dass man es irgendwann vermissen wird und dann wiederfinden möchte.
Hilfreicher scheint, die Angst vor Sterben und Tod loszulassen. So, wie das Tau eines Schiffes gelöst wird, um von einem Ufer zu einem anderen reisen zu können.
In einem Gedicht schreibt Charles H. Brent:
Ein Schiff segelt hinaus, ich sehe ihm nach
bis es am Horizont verschwindet.
Jemand sagt:
Es ist fort.
Fort, wohin? Verschwunden aus meinem Blick.
Das ist alles. Das Schiff ist
noch immer so groß
wie es war, als ich es sah.
Dass ich es nicht mehr sehe,
hat nur mit mir
und nichts mit dem Schiff zu tun.
Sobald jemand sagt:
Es ist fort, sehen andere das Schiff
und rufen freudig:
Da kommt es! und das ist Sterben.
Manche Überzeugungen und Weltanschauungen zu Sterben und Tod, über Jahrhunderte tröstlich für Menschen, die auf Erden von Menschenhand durchgeführten Grausamkeiten und entsetzlichem Leid ausgesetzt waren, erhalten mehr und mehr nachdenkenswerte Ergänzungen durch das, was Neurowissenschaften und Bewusstseinsforschung zutage fördern.
Deren Erkenntnisse entsprechen nämlich vielfältig dem, was Brent formuliert hat, sowie dem Wissen und Vertrauen, aus dem heraus die Tschuktschen ihre Toten unter den freien Himmel legten. Auch das, was der Vorfahre und der alte Häuptling beschlossen, gehört dazu. Vom Sein hier und woanders ist zum Beispiel die Rede, und von Licht.
Der Neurologe Oliver Sacks sagte aber auch: „Wenn wir weggehen, wird es niemanden wie uns mehr geben. Sowieso ist niemals irgendwer wie jemand anderes. Wenn Menschen sterben, kann man sie nicht ersetzen. Sie hinterlassen ein Loch, das nicht gefüllt werden kann. Es ist das genetische und neuronale Schicksal eines Menschen, einzigartig zu sein, seinen eigenen Weg zu finden, seinen eigenen Weg zu gehen und seinen eigenen Tod zu sterben.“
Das mit dem Loch sehe ich so: Dieses Loch kann nicht gefüllt werden, weil es bereits gefüllt ist – mit Licht.
Sterben ist der Hinüberhauch aus einer Welt voll Licht in eine Welt voll Licht, unter einem Universumshimmelszelt, das mehr umfasst als das Sicht- und Unsichtbare.
Dass die hiesige Welt so dunkel scheint, hat nichts mit dem Licht zu tun. Sondern mit dem, was Menschen hier erdacht haben, weiter verursachen oder immerfort erleiden müssen. Die einen, weil sie die Macht haben. Die anderen, weil sie ihre Ohnmacht nicht wenden können. Wieder andere, weil sie gelernt haben, dass das Leid von einer höheren Macht gegeben, geduldet oder gar gewollt sei. Weil es schon immer so war und sich die Sehnsüchte der Menschen immer nur in den Strom wieder neuer Sehnsüchte statt ins Meer der Ewigkeit ergießen, in dem sie eigentlich hier wie dort zu Hause sind bzw. sein könnten.
In meinem Lieblingspsalm 139 steht: „Spräche ich: Finsternis möge mich decken! so muss die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch Finsternis ist nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht.“
Ich bin der Ansicht: Menschen kommen ohne Weltanschauungen auf die Welt und wissen da noch, wie es wirklich ist.
Jede und jeder kommt hierher, um ein schönes, liebendes Leben auf diesem unfassbar schönen Planeten zu leben. Das Einzige, was sie daran hindert, ist das, was sie hier vorfinden.
Das zu ändern, ist Aufgabe der Menschen, also nicht die des Dahinters der Zeit, das Licht und Dunkelheit zur Verfügung stellt.
Und auch Dunkelheit heißt nicht, dass darin Entsetzliches passieren soll. Menschen nutzen die Dunkelheit nur im Glauben, ihr verachtendes Tun sei darin verborgen. Während andere zum Sternenhimmel hinaufsehen und sich sehnsuchtsvoll nach dem Woher und Wohin fragen.
Der Hauch zwischen der einen und der anderen Seite des Lichts geschieht ohnehin. Die andere Seite ist uns nah, mit allen, die dort sind.
Die hiesige Seite so Licht zu machen, dass sie der anderen ähnelt, geschieht im Innern und strahlt dann aus. Sich dessen und der Tatsache des Aufgehobenseins in beiden Seiten bewusst zu werden, könnte es leicht machen, die Gewalt auf Erden zu beenden und dem Frieden Platz zu lassen, der hier eigentlich hingehört.
Bis dies gelingt, wird es vermutlich noch etwas dauern. Es im eigenen Innern Licht zu machen und sich der Tatsache des Aufgehobenseins in beiden Seiten bewusst zu werden, kann es jedoch schon jetzt leicht machen, Abschied zu nehmen, wozu gehört, selbst gehen zu können, aber auch, andere gehen zu lassen.
Ureigentlich sind wir alle, die Lebendigen und die Toten, nur einen Hauch voneinander entfernt.