War lange niemand an diesem Ort

2013 hatte die Gedenkwoche zum Todesmarsch der Häftlinge des KZ Katzbach in den Frankfurter Adlerwerken von Frankfurt nach Hünfeld einen besonderen Programmpunkt: Christof Wackernagel las im Evangelischen Gemeindezentrum in Maintal-Dörnigheim aus seinem Buch „Trilogie“ und eröffnete damit einen Blick auf die Bundesrepublik Deutschland als Traum, Halluzination und Tagtraum.

Diese Lesung, eine Kooperation der Stadt Maintal und der Evangelischen Kirchengemeinde Dörnigheim, machte an der Reflexion der Protestbewegung der jüngeren deutschen Geschichte deutlich, dass auch Opfer zu Tätern werden können. Wackernagels Traumtrilogie „es“ zeigt in noch nicht da gewesener Form den Teufelskreis dieser Widersprüchlichkeit auf.

Mit zwei Besuchern unterhielt ich mich damals anschließend länger, und gemeinsam beschlossen wir, auch so etwas zu machen, also Träume, Halluzinationen und Tagträume aufzuschreiben und nach einer Woche untereinander auszutauschen. Dass wir das gemacht hatten, war bei mir in Vergessenheit geraten, bis ich aus aktuellem Anlass heute im Computer auf der Suche nach einem Text war, in dem das Wort Judas vorkommt. Dabei fand ich einen Dokument, das den Titel Halluzination trägt. Damals hatte ich mich bereit erklärt, diesen Part zu übernehmen. Ich setze ihn hier hinein, in der Mitte der Karwoche 2020.

Halluzination

Montag, 25.3.2013
Prinzen blasen Trompete auf Gräbern. Gestalten stolpern über die Hügel, in Hemden weiß wie Schnee, zu kurz, zu weit, gebläht in Morgenluft. Wo geht es hinaus, hört man Raunen, wo ist der Weg, Worte mischen sich mit Prinzentönen, Getöse. Wind beginnt, rüttelt an Steinen, Bäumen, trockenem Gras. War lange niemand an diesem Ort. Sie ziehen in langer Prozession. großem Pulk, hinter ihnen verklingt der Ton. Der Wind begleitet den Weg der Weltfremden.

Dienstag, 26.3.2013
Jahrelang Schürfen in Dunkelheit, Gold kratzen, polieren, Klumpen bergen. Hat gar kein Ende. Goldvulkan, einmal angebohrt, sprudelt Klumpen in die Höhe, in die Hand, sanft. Nimm, sagt Erde. Genieße Glück, Glanz schenkt die Sonne. Mit Sicherheitsabstand scharen sich Neider, giftgrün. Stehen alle auf solchen Quellen. Warum graben? fragen sie und starren auf mein Glück. Ich werfe ihnen die Schaufel zu. Genug für alle. Sie graben, lächelnd.

Mittwoch, 27.3.2013
Achtundsechzig Stunden bremsen, fürchten. Herzklopfen zählt die Sekunden, durchschlägt Gedanken. Kann nicht. Habe alles getan. Will heim. Fahre täglich achtzig Kilometer, hin und zurück, wer soll das aushalten. Der Himmel ist orange, die Wolken zerren am Grau, ist da oben oder unten, fahre ich rückwärts oder vorwärts? Keine Ahnung, ich muss fahren, so lange der Sprit reicht. Das ist vielleicht noch lange.

Donnerstag, 28.3.2013
Irrsinnig, diese Zwerge in grün mit roter Mütze und Osterhasenohren, Weihnachtmann-Mäntel über der Schulter, goldene Schlüssel an den Hosentaschen. Baumeln herum und klirren in der Kälte. Wo sie hinkommen, gefriert alles, bricht, keucht. Ein Baum fällt, die Zwerge lachen. Sie klettern darüber, ihre Mützen schwingen im Takt de Liedes, das sie nun anstimmen, mit schnarrenden Stimmen, kalt und blechern hallt es durch die Nacht.

Freitag, 29.3.2013
Überall Golgatha, aber ohne Publikum. Das sitzt in warmen Stuben, sieht Bibelfilme im Fernsehen, frisst Chips, säuft Limonade. Je mehr Blut fließt, desto mehr Limonade wird gegossen, vielleicht ist es auch Schnaps, Hauptsache vergessen. Da geht einer alleine mit einem Kreuz auf der Schulter durch den Morgen. Leider ist gerade keine Kamera in der Nähe, bis auf eine Frau und noch eine, die die Bilder in sich versenken, in Leid und Kummer.

Samstag, 30.3.2013
Morgens noch leere Straßen, alles schläft sich aus, nur eine Wolke senkt sich langsam auf den Parkplatz, ein Engel steigt herab und geht in den Supermarkt, kauft ein fürs Osterfest. Nein, kein Engel, ein Regentropfen ist das oder ein Schneekristall, ein Hagelkorn, das Aussehen wechselt wie die Farbe des Regenbogens, aber greller. Mit vollen Taschen verlässt das Hagelkorn den Laden, die Wolke ist verschwunden, wohin nun mit Milch und Honig.

Sonntag, 31.3.2013
Viel zu früh aus den Federn, schimpft der Hahn, der dreimal gekräht hat am Donnerstag. Judas baumelt noch, es ist kalt. Wer begräbt den Mann? Wir sehen nach, sehen ihn noch immer dort, er erhält keine Ruhe, ist durchnässt vom Tau. Per Mobiltelefon rufen wir himmlische Heerscharen. Begrabt ihn bitte, hier unter dem Baum, bei den kleinen Blumen. Zündet eine Kerze an. Sie scheint von seinem Grab zum anderen, dem offenen.

So weit der Text von damals. Die Bilder stammen von 2009, ich habe sie auf dem Friedhof eines kleinen Dorfes in Südfrankreich gemacht. Sie fielen mir wieder ein, als ich den Text gelesen hatte.

Kerze anzünden, immer eine gute Idee, finde ich.
Eure Ulriqe