„from a distance“ – zu den Konsequenzen von Gewalt und Flucht
19. September 2021, auf den Mainwiesen in Maintal-Dörnigheim.
Eine Dame aus dem Publikum wird unruhig, nimmt ihre Jacke und steht auf.
„Ich muss ihm wenigstens etwas zum Anziehen geben. Es ist doch kalt! Oder ich lass ihn gleich da raus“, sagt sie zu ihrer Sitznachbarin.
Die Dame befreit den Mann.
Dann geht die Dame zur Kiste, öffnet diese, schaut hinein und schließt sie wieder. Sie wirft ihre Jacke zurück an ihren Platz und öffnet die Kiste erneut.
Sie hebt einen Kaftan heraus, anschließend einen großen Krug mit Wasser und einen Gegenstand, der in ein weißes Tuch gewickelt ist
Weitere Menschen aus dem Publikum kommen dazu. Gemeinsam wird eine große Decke herausgenommen und ausgebreitet.
Dem Mann wird bedeutet, er möge sich auf die Decke setzen. Dort sitzt er nun, allein.
Nach einiger Zeit gesellen sich weitere Personen zu ihm. Eine öffnet das weiße Tuch, ein großes Brot kommt zum Vorschein.
Der Mann bricht sich von diesem Brot etwas ab und isst, während ihm die anderen Personen – ganz coronakonform – aus Distanz beim Essen zusehen.
Nach einer Weile nehmen jedoch auch sie von dem Brot. Weitere Menschen kommen auf die Decke, setzen sich dazu.
Der Mann bedankt sich bei allen, die etwas für ihn getan haben. Dann vertraut er den Menschen seinen Schlaf an und legt sich zur Ruhe.
Die Menschen stehen leise auf, decken den Mann zu und schieben die Decke um ihn herum zusammen, bis es aussieht wie ein Nest.
Ein weiterer Mann kommt mit einer Darbuka über die Wiese gelaufen und spricht in Richtung Publikum:
fern war ich, allein
gefangen war ich, allein
unter euch war ich, allein
ich bin, ihr seid, wir sind
Menschenkinder
Dann singt er ein arabisches Lied.
Über Sehnsucht und Ferne.
Schließlich spricht er ein weiteres Mal:
fern war ich, allein
gefangen war ich, allein
unter euch war ich, allein
ich bin, ihr seid, wir sind
Menschenkinder
Damit endet „from a distance“, eine Kunstperformance zu den Konsequenzen von Gewalt und Flucht.
Rund 50 Zuschauerinnen und Zuschauer hatten sich auf der Wiese am Main in Maintal-Dörnigheim eingefunden, darüber hinaus blieben zahlreiche Fahrradfahrende und Spaziergänger stehen, um das Geschehen zu beobachten.
Auf den Schlussapplaus folgte ein reger Austausch. Publikum und Darsteller sprachen über den Verlauf und das, was sie empfunden hatten.
Besonders wurde darüber diskutiert, ob mehr Zeit hätte vergehen müssen, bis der Mann befreit wurde – und was das mit dem Publikum gemacht hätte. Für diese Performance gibt es jedoch bewusst keine zeitlichen Hinweise. Beim Ausbreiten der ca. 30 qm großen Decke zeigte sich vielmehr sehr deutlich, wie schnell etwas möglich ist, sobald Menschen miteinander kooperieren.
In weiteren Gesprächen kamen Überlegungen auf, wie diese Performance auf anderen Plätzen und in anderen Bezügen verlaufen würde.
Wie Menschen dem begegnen, was ihnen fremd ist, und wie sie trotz Distanz hilfreiche Nähe gestalten können, würde sich vermutlich jeweils ganz anders zeigen. Nachgedacht wurde auch darüber, wie Kinder bei dieser Performance reagieren würden.
Was mit dem Mann im Käfig und den Gegenständen in der Kiste geschehen könnte, hatte ich für die erste Veranstaltung dieser Art auf Postkarten skizziert, die als Information auslagen. Lieber hätte ich gar keine Hinweise gegeben. Doch nach einigen Gesprächen vorab hatte ich mich anders entschlossen.
„Dieser Käfig, dazu die Kiste und deren Inhalt. Das ist die ganze Welt, was wir da erlebt haben“, sagte eine Besucherin.
„Als ich das Brot in den Mund gesteckt hatte, in dem Moment dachte ich: Corona ist vorbei“, sagte ein Herr, der sich mit auf die Decke gesetzt hatte.
Am frühen Abend sah die Wiese wieder aus, als sei dort nichts geschehen.
Die Realisierung dieser Kunstperformance auf den Mainwiesen in Maintal-Dörnigheim wurde gefördert vom Main-Kinzig-Kreis, der Sparkassenstiftung Hanau, Erbacher + Kolb, Elma Logistik, Pearson & Puppe sowie Privatpersonen.
An der Performance beteiligt waren der Frankfurter Schauspieler Serkan Gören und der Musiker Tarek Zakharia aus Mannheim. Vielen Dank an Euch beide!
Die Fotos machte Marzena Seidel, Fulda.
Die Veranstaltung fand statt im Rahmen der Sommerkirche. Die zugehörige Ausstellung „Se’le – Tiefen der Welt“ mit weiteren Werken beginnt am 26. September um 10.45 Uhr mit einer Vernissage vor der Alten Kirche am Main in Maintal-Dörnigheim.