Dann leben wir in einer tieferen Dimension des Lebens im Einklang mit uns selbst, mit anderen, mit der Welt, die uns umgibt. Wir erkennen und spüren den größeren Sinnzusammenhang. Dann prägt unser Dasein eine Haltung von Versöhnung, Verantwortung und schöpferischem Mitwirken, die unabhängig von Glaubens- und Weltanschauungssystemen alles durchdringt.
Was bedeutet das mit Blick aufs komplexe und zugleich fragile Gefüge der Beziehung zwischen Eltern und Kindern nach einer Trennung? Was bedeutet es für das System –Justiz, soziale Dienste, Gesellschaft – das leider zu oft den Konflikt statt Heilsames verstärkt? Was bedeutet das für Eltern, die sich häufig in einer emotionalen Auseinandersetzung miteinander befinden, in dem das Wohl des Kindes aus dem Blick gerät?
Lebten wir in der tiefen Dimension des Heilands, gäbe es zum Beispiel keine Verwirrung über einen Begriff wie „Bindungsneutralität“. Vielleicht gäbe es nicht mal diesen verwirrenden Begriff an sich. Doch zumindest könnte klar sein, dass Bindung niemals neutral ist. Sondern ein Raum, in dem Menschen idealerweise Schutz erfahren und in dem sie wachsen können.
Zu Bindung gehört, dass sie unaufhörlich genährt wird – durch Präsenz, Verlässlichkeit und Liebe. Ein Kind, das sich geborgen weiß, blüht auf, entwickelt Vertrauen in sich und die Welt. Darum haben Eltern ihr Kind umfassend zu behüten, wenn es klein ist, und es nach und nach (!) freizugeben in sein eigenes Sein und Haben. Bis es mit circa 23 Jahren (ja, erst ab dann) im besten Fall energetisch und emotional souverän sein Leben selbst leben kann. Wissend und fühlend, wohin es sich wenden kann, wenn es Hilfe benötigt: zum Beispiel, also nicht zwingend, an die Eltern.
Nach einer Trennung der Eltern ist dieser potenzielle Raum zerbrochen.
Hierzulande erleben wir jedoch, dass die Idee einer „Bindungsneutralität“ in den Händen eines Systems, das auf Prinzipien statt auf Menschen blickt, zu einer Waffe werden kann: Mütter, die versuchen, ihre Kinder vor einem seelisch oder/und körperlich gewalttätigen Vater zu schützen, werden plötzlich selbst zu Täterinnen gemacht. Sie wollen das Beste für ihre Kinder, genau aus diesem Grund haben sie sich zum Beispiel von ihren Partnern getrennt. Doch ausgerechnet ihre Sorge wird von offiziellen Stellen, vom Jugendamt bis zum Gericht, als „Entfremdung“ interpretiert, ihre Fürsorge als Manipulation. Die systematische Anwendung von Konzepten wie dem „Parental Alienation Syndrome“ (PAS), die wissenschaftlich nicht haltbar sind, kehrt Täter-Opfer-Dynamiken um (aktuelle Studie dazu).
Wenn wir in einer Haltung von Versöhnung und Verantwortung handelten, änderte sich das System im heilsamen Sinne radikal. Richter:innen, Jugendamtsmitarbeiter:innen und alle, die an Entscheidungen beteiligt sind, blickten dann auf tieferen Ebenen wissend und fühlend auf den Konflikt zwischen den Eltern und was dieser für das Kind bedeutet. Sie würden fragen: Wo ist das Kind sicher geborgen? Wer gibt ihm, was es braucht, um zu wachsen?
Den seltsamen Begriff Bindungsneutralität würden sie besser auf sich selbst anwenden, um zu erkennen, wo sie Elternteilen Unrecht tun bzw. welchem Elternteil Unrecht widerfährt. Sie würden dies als Verpflichtung verstehen, die tatsächliche Qualität der Bindung zu erfassen. Wozu gehört wahrzunehmen, welcher Elternteil versucht, sich selbst und die Kinder vor körperlicher und seelischer Gewalt zu schützen. Niemand beendet schließlich eine Beziehung, aus der Kinder entstanden sind, einfach so. Da liegen Gründe vor, und die gilt es wahrnehmen zu wollen, zu erforschen, zu achten. Was schwierig ist, wenn zum Beispiel aufgrund freier richterlicher Beweiswürdigung sehr früh erstellte Gutachten unberücksichtigt bleiben.
In einer Haltung schöpferischen Mitwirkens würden sich allerdings auch die Eltern – und zwar beide – fragen: Wie können wir gemeinsam unser Kind stärken? Wie können wir ihm zeigen, dass es in beiden Welten willkommen ist, ohne es in Loyalitätskonflikte zu stürzen?
Dies würde bedeuten, dass Eltern ihre eigenen Wunden heilen, um nicht unbewusst die Last der Trennung auf die Schultern ihres Kindes zu legen. Dazu gehören selbstverständlich allem voran die ganz alten Wunden. Also genau die, die den Konflikten ursächlich zugrundeliegen – die jedoch viel älter sind als die Beziehung an sich. Eltern, die beide ihre ältesten Wunden schließen, werden sich dann auch fragen, warum sie überhaupt die Beziehung begonnen und beendet haben. Nur leider kümmert sich zumeist nur ein Elternteil um diese eigenen „Baustellen“.
Die Gesellschaft schließlich trägt für all das Mitverantwortung. Sie nämlich, die selbst von Individualismus und Trennung geprägt ist, könnte sich fragen: Wie sind eigentlich alle anderen Räume beschaffen, in denen Kinder gedeihen sollen? Wie werden Eltern dort mit ihren Ängsten gesehen und in ihren Unsicherheiten unterstützt, vor allem Eltern, die in oder nach einer Trennung ihren Weg suchen? Wie können wir gewährleisten, dass unser sehr gutes Rechtssystem nicht weiter zum Schauplatz grotesker, ja kafkaesker Machtkämpfe wird?
Statt zu versuchen, eine „perfekte“ Welt zu schaffen, könnten wir beginnen, eine menschliche zu gestalten. Eine, in der Verstand und Gefühl gleichberechtigtes Dasein führen. Von allen gemeinsam genährt, behütet und beschützt. Denn Verstand und Gefühl benötigten dieses demütige Versorgtsein immer. Auf dass Versöhnung im Heiland Wirklichkeit wird – durch Verantwortung, Mitgefühl und den Mut, unabhängig von Glaubens- und Weltanschauungssystemendas das für alle Generationen Hilfreichste zu schaffen, zu fördern und zu bewahren. Der 1. Weihnachtsfeiertag ist eine gute Gelegenheit, in diese Haltung hineinzufinden.