Den Bach runter interpretieren

Einfach alles, auch Deutschland, geht den Bach runter. So tönt es mittlerweile häufig dort, wo Menschen miteinander sprechen. Zum Beispiel bei zufälligen Begegnungen auf der Straße, in Telefonaten, bei Geburtstagsfeiern.

Aufs Bewusstsein hat der Spruch mit dem Bach eine fatale Wirkung. Denn er verstärkt das Gefühl eigener Hilflosigkeit. Für desinformierende, demokratiefeindliche Kräfte ist er hingegen ein gefundenes Fressen. Denn diese Kräfte nähren sich von den Hilflosigkeiten, Sorgen und Ängsten der Menschen. Solche Sprüche, häufig geäußert, spielen diesen Kräften immer neues Futter ins unersättliche Maul.

Leider hängen Menschen sehr an solchen Sprüchen. Noch leiderer sperren sie sich dagegen, den Zusammenhang zwischen Sprache und dem, was geschieht, zu erkennen. Als witterten sie, dass ihre Worte gesellschaftliche Relevanz haben.

Vielleicht ist ihnen die Verantwortung zu viel, die mit ihren Worten einhergeht. Darum einfach nicht darüber nachdenken. Vielleicht fühlt es sich zu ungewohnt an, etwas Hoffnungsstures zu formulieren. Darum einfach etwas plappern, das „schon immer so gesagt wurde“. Sollte es dennoch besser kommen als gedacht, hat man noch mal Glück gehabt. Geht es tatsächlich „den Bach runter“, hat man zumindest Recht gehabt.

Nun ist es aber so, dass Menschen sich eigentlich genau das Gegenteil von „Bach runter“ wünschen. Manche glauben darum, dass eine bestimmte Partei dafür sorgen könne, dass es den Bach wieder raufgeht. Manche fürchten sich aber auch vor genau dieser Partei.

Den Bach rauf ist jedoch noch nie etwas gegangen. Mit frustrierten, dennoch demokratiewilligen Zeitgenossen über die Wirkmächtigkeit von Sprache so ins Gespräch zu kommen, dass sie künftig auf Bach-runter-Sprüche verzichten – dafür braucht’s im Alltag Sternstunden. Glücklicherweise lässt sich kreativ aber auch anders gegensteuern: indem wir den Spruch mit dem Bach genau betrachten.

Die Herkunft des Spruchs ist unklar. Um seine negative Bedeutung nachzuvollziehen, wäre das Bild: Man steht auf einem Berg an einem Bach und es fällt einem etwas Wichtiges in hinein. Dieses Wichtige geht dann diesen Bach runter – und ist weg oder „unten“.

Da sich das Wichtige dann in Wasser befindet, müsste es allerdings schwimmen. Oder der Bach müsste flach sein und das Wichtige bräuchte Füße. Dann könnte es in der Tat den Bach runtergehen. Hätte das Wichtige Füße, wäre es jedoch vermutlich gar nicht hineingefallen. Oder das, was den Bach runtergeht, sind Menschen. Doch dann hieße der Spruch „alle gehen den Bach runter“, was etwas ganz anderes aussagt.

Wenn einer Person etwas in einen Bach fällt, ist zudem anzunehmen, dass sie es wieder herausfischt. Anders wäre es vielleicht an einem reißenden Fluss. Doch auch dann könnte man hinterherspringen und das Wichtige retten.  

Es sei denn, man bleibt am Ufer stehen und lässt es geschehen. Dann wäre das Wichtige, das hineinfiel, nicht wichtig gewesen. Was hineinfiel, bleibt aber vielleicht an einem Stein hängen und schafft es gar nicht bis zum Ende des Bachs. Überhaupt – wohin plätschert der Bach? Versickert er irgendwo im Boden und fließt unterirdisch weiter? Mündet er in einen Fluss, der ins Meer strömt?

Deutschland geht den Bach runter – den Bach möchte ich sehen, in den dieses Land passt. Von der Form her stelle ich mir einen Klavierflügel vor, der mit seinen Rollfüßen links und rechts neben dem Bach steht. Der Bach macht sich extra breit, um den Flügel aufzunehmen.

Da stellt sich heraus, dass der Bach Johann Sebastian heißt (haha). Kurz: Niemals passt ein Land in einen kleinen Fluss. Sondern Bäche und Flüsse befinden sich in Ländern. Länder haben auch keine Füße. Niemals also kann „alles“ oder ein Land „den Bach runtergehen“. Insgesamt zeigt sich: Ein wenig seziert und bei Lichte interpretiert erweist sich „etwas geht den Bach runter“ als bedrohungsfrei.

Für desinformierende, demokratiefeindliche Kräfte ist so etwas fatal. Ihnen geht das Futter aus, wenn Menschen (auch sprachlich) in ihre Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit zurückfinden – wozu gehört, umsichtig mit dem umzugehen, was man sagt, hört und glaubt.