Die Welt verleisern

Zum 31. Dezember 2023 und 1. Januar 2024

Zerfetzte Papiere, einsame Holzstecken und leere Papphülsen mit bunten, spitzen Plastikhütchen. Am Neujahrsmorgen werden die Überreste der zahlreichen Silvesterfeuerwerke hierzulande wieder die Straßen zieren und zeigen: Viele Menschen möchten böllern. Auch wenn man so viel anderes mit dem Geld machen könnte, das Feuerwerk kostet. Auch wenn Hund und Katz sich vor dem Geknalle fürchten. Auch wenn in Kriegsgebieten „echte“ Raketen Schrecken und Tod bringen.

Böllern gehöre zur „deutschen Kultur“, schrieb gar jemand in einem Online-Netzwerk. Sofort berichtigt durch jemand anderen: Stimmt nicht, es gehöre nicht zur deutschen Leitkultur. Sofort berichtigt von einer dritten Person: Der Urheber des fraglichen Beitrags hätte nichts von Leitkultur geschrieben. Und so weiter. Wie das halt so ist in diesen Medien, in denen das ganze Jahr rund um die Uhr mit Bildern und Worten geböllert wird. Wer hat den dollsten Knaller, darum auch die meisten Likes und Kommentare?

Krachmachen soll schließlich die bösen Geister vertreiben. Die Geister, die Angst machen. Die Geister, die einem zuflüstern: Du bist machtlos. Die Geister, die raunen: Du bist allein.

All diese lebensundienlichen Geister zu verjagen, dazu dient der permanente Daseinskrach des Alltags. Getoppt vom Silvesterfeuerwerk, dem böllernden Ausrufezeichen, auf dass diese Geister möglichst das ganze kommende Jahr über fern bleiben mögen. Doch leider: Kaum hört das Geknalle auf, sind sie sofort wieder da. Der Platzverweis, die rote Krachkarte, ist nur von kurzer Wirkdauer. Schnell kehren die dunklen Mächte zurück, quälen und stören. In Realien ebenso wie in Digitalien und Virtualien.

Diese Geister sagen. Ihr wollt uns verjagen? Älabähtsch, danke fürs Futter. Wir ernähren uns von eurem Krach, eurer Angst, euren hilflosen Versuchen, uns aus der Welt zu schaffen. Wir lachen uns ins Fäustchen und kichern seit abertausenden von Generationen darüber, wie gut es uns gelang, euch das mit dem Krachmachen einzureden. Macht nur weiter, wir werden immer wiederkommen, uns in eure Untiefen legen. Weil ihr nicht wisst, wie ihr uns tatsächlich aus euch und damit aus der Welt schaffen könnt.

Schütteln die guten Geister ihre Köpfe, erheben ihre Häupter, schweigen und zeigen, wie es gelingen kann. In ihrem Schweigen und Zeigen ein Hauch, Worte tragend: Alles wird gut.

Die Worte, die jedes Kindlein klein dringend benötigt. Vor allem dann, wenn eigentlich das Gegenteil der Fall ist: In Kummer und Not. Im finsteren Keller, wenn die Häuser darüber dem Erdboden gleichgemacht werden. Im Leben, wenn das Sterben wahrscheinlicher ist. Alles wird gut. Mutter und Vater oder andere, die das sagen und damit auch: Du bist geliebt, du bist ewig aufgehoben im Haben und Sein. Wer aber hörte dieses Alles wird gut? Wohl nicht die, die die Welt mit Schrecken überziehen. Auch nicht die, die starke Führer wollen.

Doch vor allem die sehnen sich danach. Die Gräueltäter und Führererhoffer. Sie wollen darum mit starker Hand ein maßloses Gut für sich schaffen, das jedoch ein Schlecht für alle anderen ist. Flößen fortwährend Ängste ein, die tief ins neue Jahr sickern und Wahlen entsprechend beeinflussen sollen. Die guten Geister schütteln weiter ihre Köpfe, erheben ihre Häupter, schweigen und zeigen, wie es gelingen kann, die lebensundienlichen Gesellen ohne Getöse tatsächlich aus der Welt zu schaffen: Indem man sie verleisert, die Welt.

In diesem Verleisern die lebensundienlichen Geister vertikal nach oben steigen lassen, auf dass sie sich dort, im potenzialfreien Raum, in ungefährliche Einzelteile auflösen.

Während der Silvesterböllerei also die Geister, die gehen sollen – zum Beispiel demokratiezersetzende – gedanklich vertikal (!) samt Auflösebotschaft nach oben mitschicken. Dank der uns gegebenen Kreativität ist das möglich (und sinnvoller, als sich über die Knallerei aufzuregen). Durch dieses leise Aufheben, Auflösen, schlussendlich: Erlösen der lebensundienlichen Geister verschwindet zugleich deren Futter, also der Krach, der sie bislang vertreiben sollte und nicht konnte.

Du kannst natürlich weiter ängstlich in 2024 blicken. Ich frage mich nur: Wenn wir uns hier in diesem Land mit seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung Angst machen lassen von einem immer lauter werdenden, weltweiten Ungeist, der vorhat, verschiedenste Errungenschaften friedlichen Miteinanders wieder abzuschaffen – wem nutzt das? Doch wohl nur diesem Ungeist. Darum: diesen leise weise kreativ auflösen. Ist möglich. Guter Geist bleibt übrigens unauflöslich und macht alles gut. So kann man ihn von anderem unterscheiden.

Klingt alles sonderbar oder gar gaga? Ich halte dagegen: Gaga ist, was manche Haudegen immer wieder mit dieser Welt vorhaben und auch in die Tat umsetzen.

Ohne dass jemand das infrage stellt, stellen kann oder darf. Doch mit leisem Tun können wir viel dagegen bzw. dagagan (sic!) tun. Muss ja niemand wissen. Wenn du dann am Neujahrsmorgen durch die Straßen spazierst, erinnern dich zerfetztes Papier, einsame Holzstecken und leere Papphülsen mit bunten, spitzen Plastikhütchen vielleicht an die Ungeister, die dank deiner Gedanken in der Silvesternacht 2023/24 ihren Weg hinaus aus dieser Welt gefunden haben.

Gibt leider noch jede Menge weiterer Ungeister und rücken täglich welche nach. Deren leise Auflösung ist darum das ganze Jahr gefragt.

Dabei der Welt und ihren Kindern immer wieder zusprechen: Alles wird gut.

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