Feuer in den Köpfen


Du bist eine Hexe. Du brauchst einen Besen. Du gehörst auf den Scheiterhaufen. Solche Aussagen sind noch heute an der Tagesordnung. Rote Haare oder die nähere Beschäftigung mit Küchenkräutern genügen Männern wie Frauen, andere als Hexe zu bezeichnen.

Was ist dagegen zu tun? Zum Beispiel: Glaubenssätze himmeln, falls man selbst (vielleicht auch nur unbewusst) denkt, dass die Aussagen auf einen zuträfen. Außerdem: Weitermachen, mit den Haaren und den Kräutern. Und: Veranstaltungen organisieren, die informieren. Im Puschlav, einem südlichen Tal der Schweiz, gibt es über mehrere Monate hinweg unterschiedliche Angebote zu der Thematik.

Denn seit dem 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein wurden dort über 300 Hexenprozesse durchgeführt. In dieser Zeit versetzten Kriege, Epidemien und Naturkatastrophen die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Grosse Armut und tiefer Aberglauben verbanden sich mit dem Denken, andere würden mit der Hilfe des Teufels Unglück und Schaden verursachen.

Ein Hexenforscher aus Holland nennt die Hexenverfolgung einen Virus, diese Info hier aber in Zeiten von Corona nur am Rande.

Angst vor Hexen gibt es immer noch, das Thema fasziniert Menschen weiterhin. Vor allem Frauen, die irgendwie anders sind, werden schnell als Hexe abgestempelt. Darüber hinaus zeigen Forschungen aus der Epigenetik, dass Traumata Gene verändern und so auch weitervererbt werden können. Folter und Hinrichtungen von damals traumatisierten individuell und kollektiv und wirken hinein bis in unsere Zeit.

Idee war darum auch, in Poschiavo eine Ausstellung mit Werken zu machen, die Menschen in ihrer Tiefe anrühren und für neue Sichtweisen öffnen: Dafür, dass Gewalt und Leid unsichtbar weiterwirken, Ängste aller Art in Menschen ihr Unwesen treiben und die Lust am Grauen bleibt, obwohl man sich eigentlich davor fürchtet. Dafür, dass die Erkenntnis „das Gegenüber ist ein Mensch, kein Untier“ sehr simpel und doch in vielerlei Hinsicht eine Herausforderung ist – der sich eine moderne Gesellschaft jedoch kontinuierlich stellen sollte.

In diesem Sommer war in Poschiavo die Ausstellung „Hexenzyklus“ zu sehen. Gezeigt habe ich archaisch anmutende Bilder, Objekte und Installationen aus gefilzter Wolle, Holz, Stahl und Brennesselgarn. Wesen mit ihrer unsichtbaren Geschichte, die im Spiegel des Betrachters mit dessen eigener Geschichte und geerbten Themen in Resonanz gehen.

Entstellte „Hexen“köpfe, geplagte Körper. Eine Figur, die von Besucherinnen und Besuchern mit Draht, Eisenstücken und anderen Elementen verändert werden konnte. Zeichen vom Rupa Magna, einem sagenumwobenen Felsen im Veltlin. Aber auch ein grosser Mantel mit Figuren von Felszeichnungen aus aller Welt, den die Menschen anziehen konnten und in dem sie in ihre geburtsrechtliche Verbindung zwischen Himmel und Erde, ihr ureigenes kraftvolles Sein hineinspüren konnten.

Neben dem allgemein populären sowie rationalen, wissenschaftlichen Umgang mit der Geschichte der Hexenverfolgung lag mir mit der Ausstellung am Herzen, durch die Werke Blickwinkel und Fühlmöglichkeiten für Emotion zu eröffnen, auch als Basis für Gespräche über dieses besondere Ereignis europäischer Geschichte. Die Ausstellung war also nicht auf die Puschlaver Historie beschränkt, sondern nahm Ereignisse anderer Gegenden mit hinein.

Dazu kam eine Hexenverbrennung genau auf dem Platz, auf dem in den vergangenen Jahrhunderten die grausamen Hinrichtungen stattgefunden hatten. Als ich die Idee äußerte, dachte ich mir: Das wird nichts, dafür werde ich keine Genehmigung erhalten. Doch es kam anders.

Am 26. Juli 2021 sollte Abends das Theaterstück „mi non sei“ der Compagnia Inaudita gezeigt werden, dessen Text auf originalen Prozessakten basiert. Ort der Aufführung war der Saal in der Casa Torre direkt am Dorfplatz. In diesem Saal fanden in den früheren Jahrhunderten die Hexenprozesse statt. Eine Holzempore führt an der Wand des Saales entlang bis zu zwei hölzernen Türen, hinter denen Touristen sich heute die Zellen und andere Räume schauerlicher Art ansehen können.

Geplant war, die Verbrennung einer Filzfigur im Anschluss an dieses Theaterstück zu zeigen, als Fortführung dessen, was das Stück thematisiert hatte bis hin zur Verurteilung. Doch auf der Reise nach Poschiavo dachte ich mir, obwohl ich seit zwei Jahren diese Scheiterhaufen-Idee in mir herumgetragen hatte: Nein. Kein Verbrennen. Etwas ganz anderes muss passieren.

Sollte ich einen Eimer neben den Scheiterhaufen stellen, um die Fackel darin auszulöschen, statt das Holz anzuzünden? Sollte ich das machen oder jemand anderes? Mit einer Freundin, die in Poschiavo lebt, besprach ich mein Vorhaben.

Am Nachmittag des Tages schichtete ich auf dem Dorfplatz den Scheiterhaufen auf. Menschen sprachen mich an. Eine Frau sagte, es sei verrückt, so etwas zu tun (ich pflichtete ihr bei). Eine ältere Dame bot sich an: Sie ließe sich gerne an diesem Abend verbrennen. Eltern mit kleinen Töchtern schauten zu und fragten. Menschen jeden Alters kamen, sahen zu, machten Fotos, fragten. Sogar eine Katze kam vorbei und betrachtete sich den Holzstapel von allen Seiten.

Schließlich stand der Scheiterhaufen auf dem Platz und der Abend senkte ich langsam über das Tal. Es begann zu regnen. Der helle Holzstapel schien im Abendlicht zu leuchten.

Gegen neun Uhr stellte ich die Filzfigur auf den Scheiterhaufen, der Regen hatte aufgehört. Kurz nach zehn Uhr kam das Publikum aus der Casa Torre und stellte sich in einem weiten Kreis um die Szenerie herum auf. Passanten gesellten sich dazu.

Zwei Frauen gingen zu dem Holzstapel und entzündeten eine Fackel aus Wachs und alten Leinentüchern an einem Teelicht. „Das funktioniert nicht“, raunte ein älterer Herr neben mir.

Die Fackel war angezündet, die eine Frau hielt die Fackel in die Höhe. Dann nahm sie diese und schritt langesam den Kreis der umstehenden Menschen ab.

Sie gab die Fackel einem Mann, mit dem besprochen worden war, was ich wollte, das er tat. Er hatte zugesagt und ging mit der brennenden Fackel langsam zu dem Scheiterhaufen. Er stellte sich davor und betrachtete die Figur, verbeugte sich vor der „Hexe“.

Dann drehte er sich langsam um, ging zum Dorfbrunnen und löschte die Fackel darin aus.

Eine Frau neben mir, die den Atem angehalten hatte, rief leise und erleichtert aus: „Ja!“. Menschen applaudierten. Manche waren enttäuscht. Kein Feuer?

Am nächsten Tag sagte ein junger Mann: „Sie haben unseren Voyeurismus entlarvt.“

Wozu hätte an diesem Ort eine Verbrennung stattfinden sollen? Das Feuer war bereits dort gewesen: in den Köpfen der Menschen. Sie sahen es in sich, bevor es angezündet worden wäre. Erfüllung kollektiver innerer Bilder, gefroren über die Generationen. Ich vermute, dass diese Bilder durch die historische Tat des Fackelauslöschers ins Schmelzen gekommen sind.

Brennende Scheiterhaufen, Schmerz und Not werden aufhören, sobald Menschen damit aufhören, dies immer wieder in realiter sehen, erleben oder verursachen zu wollen.

Noch vor Mitternacht war der Holzstapel wieder abgebaut.

Bilder der Performance sind hier zu sehen. Vom Auslöschen der Fackel gibt es kein Foto.

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